Landesparteitagsantrag

Die juristische Ausbildung modernisieren und reformieren

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Schleswig-Holstein unterstreicht die zentrale Bedeutung einer qualitativ hochwertigen juristischen Ausbildung für die Integrität unseres Rechtsstaates sowie zur Gewährleistung und Stärkung unserer demokratischen Grundwerte. Eine in Schleswig-Holstein lokal verankerte qualitativ hochwertige Ausbildung ist daher zur Förderung und Sicherung der benötigten Fachkräfte unerlässlich.

Daher setzen sich BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Schleswig-Holstein für die Einrichtung einer Arbeitsgruppe bestehend aus Ausbilder*innen, Praktiker*innen, Lehrenden, Studierenden, Referendar*innen sowie Berufseinsteiger*innen ein, die ein Konzept zur Reform des Jurastudiums einschließlich eines modernen
Pflichtfachstoffkatalogs erarbeitet, der systematisch-methodisches Problemlösen mit reflexivem Denken und einer Auseinandersetzung mit den Grundlagen verlangt. Dabei muss eine Reduktion der psychischen Belastung und des auswendig zu lernenden Wissens (Pflichtfachstoffkatalogs) erreicht werden.

Darüber hinaus setzen sich BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Schleswig-Holstein ein für:

  1. den Ausbau der universitären Examensvorbereitung (Repetitorien) mit dem Ziel, dass die kommerziellen Repetitorien überflüssig werden.
  1. die Gestaltung des Ersten Staatsexamens mit sechs Aufsichtsarbeiten, davon zwei im Bürgerlichen Recht, zwei im Öffentlichen Recht und zwei im Strafrecht,
  1. einen obligatorischen Ruhetag nach zwei Aufsichtsarbeiten bei höchstens vier Aufsichtsarbeiten pro Woche,
  1. einen fristlosen, kostenlosen Verbesserungsversuch im Ersten und Zweiten Staatsexamen ohne Einschränkungen zu ermöglichen,
  1. eine diverse Besetzung der Prüfungsausschüsse vorzuschreiben,
  1. die Einführung einer Möglichkeit die Aufsichtsarbeiten in bis zu drei zeitlich getrennten Prüfungsdurchgängen anfertigen zu können (sog. Abschichten),
  1. die Einführung eines integrierten Bachelors in der juristischen Ausbildung (LL.B.),
  1. die Einführung des für die Studierenden fakultativen E-Examens im ersten und zweiten Staatsexamen,
  1. die Sicherung von Praktikumsplätzen in den Verwaltungen durch mehr Angebote und einer organisierten Vergabe,
  1. die Ermöglichung der praktischen Studienzeit in der Vorlesungszeit und
  1. die Prüfung einer einstufigen Jurist*innenausbildung ohne die Aufteilung in Studium und Referendariat auf Bundesebene.

Begründung

In der juristischen Fachwelt herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass die juristische Ausbildung reformbedürftig ist. Seit 1869 besteht das grundlegende juristische Ausbildungssystem unverändert fort, lediglich vor 20 Jahren wurde es um das Schwerpunktbereichsstudium erweitert.

Die Ergebnisse einer umfassenden Studie von iur.reform liefern erstmals Einblicke in die Zustimmungs- und Ablehnungsquoten verschiedener Akteure zu den in der Fachwelt diskutierten Reformansätzen und Thesen der letzten 20 Jahre.1 Besonders auffällig in den Studienergebnissen ist die hohe emotionale Belastung, insbesondere bei weiblichen Studierenden.

Auch andere Studien und Umfragen zeigen eine hohe psychische Belastung der Studierenden.2 So deutet eine Studie an der Universität Halle-Wittenberg darauf hin, dass jeder „dritte Studierende der Rechtswissenschaft an einer milden, moderaten oder schweren depressiven Symptomatik leidet“.3 Laut einer Umfrage des Bundesverbands rechtswissenschaftlicher Fachschaften (Bundesfachschaft) würden rund 70 % der Studierenden das Studium in Hinblick auf die psychische Belastung nicht weiterempfehlen.4

Dies ist angesichts des enormen Nachwuchsmangels in allen juristischen Berufen problematisch.5 Richtet man den Blick weiter in die Zukunft, wird sich die Lage dadurch, dass ein Großteil der Richter*innen sowie Staatsanwält*innen in den kommenden Jahren in Rente gehen, noch weiter zuspitzen. Im Gegensatz zu anderen Fachbereichen kann der Mangel an Jurist*innen aufgrund der Besonderheit unseres nationalen Rechtssystems nicht durch ausländische Fachkräfte ausgeglichen werden.

Der Pflichtfachstoff und die Abschlussprüfungen sind immer umfangreicher geworden. täglich werden neue Urteile, Gesetze und Literaturbeiträge veröffentlicht, die in der Ausbildung berücksichtigt werden müssen, sofern sie thematisch im Pflichtfachstoffkatalog angesiedelt sind.

Jurist*innen sollen in der Lage sein, sich unbekannte Rechtsgebiete durch strukturelle und methodische Fähigkeiten zu erschließen, daher muss statt immer detaillierteres Fachwissen das Jurastudium reformiert und der Pflichtfachstoff sinnvoll reduziert werden, um in der Ausbildung mehr Zeit für eine logik- und strukturorientierten Lehre zu schaffen.

Zu den weiteren Punkten:

1. Ausbau der universitären Repetitoren

Der überwiegende Teil der Studierenden nutzen kommerzielle Repetitorien zur Examensvorbereitung. Wenn das ganze Studium durch die Universität als Examensvorbereitung betrachtet und auch so gestaltet wird, ist eine effektivere Vorbereitung möglich. Der Ausbau der universitären Repetitoren gibt allen Studierenden die Möglichkeit zur Vorbereitung auf ein Prädikatsexamen und nicht nur finanziell gutstehenden Studierenden.

2. Gestaltung des ersten Staatsexamens mit sechs Aufsichtsarbeiten (2-2-2-Modell)

Mit der neuen Juristenausbildungsverordnung (JAVO), die 2024 in Kraft tritt, werden statt aktuell sechs demnächst sieben Aufsichtsarbeiten den Studierenden abverlangt. Im Hinblick auf die starken psychischen und physischen Belastungen und der Harmonisierung mit den anderen Bundesländern sollte es sechs Aufsichtsarbeiten nach dem 2-2-2-Modell (zwei im Bürgerlichen Recht, zwei im Öffentlichen Recht und zwei im Strafrecht) geben. Durch die Reduzierung um eine Aufsichtsarbeit im Bürgerlichen Recht werden wir der Ausbildung zum*zur Volljurist*in bzw. Einheitsjurist*innen gerecht. Unsere Studierenden sollten bei der Examensvorbereitung ihren Fokus nicht zugunsten eines Teilbereichs verlagern, sondern alle Teilbereiche gleichermaßen vorbereiten.

3. Ruhetag nach zwei Aufsichtsarbeiten

Ruhetage dienen vor allem der Erholung zwischen den fordernden Klausuren. Nach jüngsten Erkenntnissen sollen jene aber der Vergangenheit angehören und schrittweise bundesweit gestrichen werden. Eine Reduzierung von Ruhetagen schafft hierbei keine Abhilfe, sondern intensiviert die bereits präsenten Herausforderungen. Der hohe psychische Druck, welcher eine der Hauptgründe für die fehlende Attraktivität des Jurastudiums ist, wird in der relevanten Examenszeit weiter erhöht. Denn den Studierenden wird wichtige Regenerationszeit genommen, derer es bedarf, um unter humanen Prüfungsbedingungen den schriftlichen Teil der staatlichen Pflichtfachprüfung zu absolvieren.

4. Fristloser, kostenloser Verbesserungsversuch ohne Einschränkungen

Der Verbesserungsversuch ist in Schleswig-Holstein an die Wahrnehmung des fristgebundenen Freiversuchs geknüpft. Dabei fühlen sich mehr als die Hälfte der Studierenden am Ende der Freiversuchsfrist (achtes Semester; zwei Semester vor Ende der Regelstudienzeit) noch nicht dazu bereit, sich für die Staatsprüfung anzumelden und nehmen den Freiversuch daher nicht wahr.6

Durch einen fristlosen, kostenlosen Verbesserungsversuch ohne Einschränkungen wird allen Kandidat*innen die Möglichkeit eröffnet die Noten zu verbessern. Diese Maßnahme sorgt für eine Entlastung der Studierenden. Auch wenn die Frist gestrichen wird, werden die Kandidat*innen weiterhin zu einem zügigen Abschluss der juristischen Ausbildung bewegt, da der Verbesserungsversuch vor Aufnahme des Vorbereitungsdienstes bzw. vor Beginn einer Arbeitsaufnahme stattfinden muss.

5. Diverse Besetzung der Prüfungsausschüsse

Die Prüfungskommissionen in den mündlichen Prüfungen sollten divers besetzt werden. Damit gehen wir die empirisch belegte Benachteiligung von Frauen und von Menschen, die als Menschen mit Migrationshintergrund betrachtet werden an.7

6. Die Einführung des Abschichtens

Schleswig-Holstein passt sich damit den Bundesländern Baden-Württemberg, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen an. Durch die Abschichtung soll der Prüfungsdruck der Kandidatinnen und Kandidaten entlastet werden. Die Abschichtung erlaubt es den Studierenden in gewissem Umfang, in Etappen zu lernen und sich auf einzelne Prüfungsgebiete zu konzentrieren. Eine tiefere Durchdringung des Lehrstoffes in dem einzelnen Prüfungsgebieten wird den Kandidatinnen und Kandidaten dadurch ermöglicht, als dies möglich wäre, wenn man sich auf alle Prüfungsgebiete gleichzeitig vorbereiten muss. Die mündliche Prüfung findet nicht abgeschichtet, sondere zu allen Rechtsgebieten gleichzeitig statt. Insofern wird sichergestellt, dass die Kandidatinnen und Kandidaten den Prüfungsstoff von den Bereits angefertigten Aufsichtsarbeiten wiederholen müssen.

7. Einführung eines integrierten Bachelors in der juristischen Ausbildung

Bis zum ersten Staatsexamen beträgt die Regelstudienzeit über vier Jahre. Die tatsächliche Studienzeit liegt durchschnittliche noch höher – je nach Bundesland zwischen zehn und dreizehn Semestern. In dieser Zeit werden bereits außerhalb der Examensvorbereitung im Rahmen der Zwischenprüfung und dem Schwerpunktbereich Prüfungsleistungen abgelegt, welche den Anforderungen von Bachelorstudiengängen mindestens entsprechen, diese teilweise sogar übertreffen. Dennoch wird bisher kein akademischer Abschluss für diese Leistungen an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel vergeben. Die große Mehrheit der Studierenden erhalten daher erst nach der Dauer eines durchschnittlichen Masterstudiums (sechs Semester Bachelor, vier Semester Master) ihren ersten Abschluss in Form des ersten Staatsexamens. Fast 30 % Fallen durch das Staatsexamen und stehen nur mit dem Abitur da.8

Dabei bietet der Arbeitsmarkt vielfältige Stellenangebote, angepasst auf LL.B.-Absolvierende mit anschließendem Master. Arbeitsplätze, die früher mit der Diplomjurist*innen besetzt waren, sind heutzutage Stellen, welche zwangsläufig mit Volljurist*innen besetzt werden müssen. Das Missverhältnis zwischen Angebot und Nachfrage wächst hierdurch weiter.

Mit der Einführung eines integrierten Bachelors könnte dem entgegengewirkt und die Lage des juristischen Arbeitsmarkts entspannt werden. Zudem wird insbesondere das „Alles-Oder-Nichts“-Prinzip des Staatsexamens als einer der Hauptverantwortlichen für psychischen Druck im Studium genannt.Die Einführung eines integrierten Bachelors würde also nicht nur zur Entspannung des Arbeitsmarkts beitragen, sondern auch den Druck im Studium und etwaige Examensängste lindern. Langfristig könnten so späte Abbrüche ohne universitären Abschluss vermieden werden

8. Einführung des E-Examens

Die Anfertigung der schriftlichen Abschlussklausuren an einem digitalen Gerät ist der einzige zukunftsweisende Weg und wird in immer mehr Bundesländern ermöglicht. Diese digitale Staatsprüfung bietet den Studierenden, die von ihr bereits Gebrauch machen dürfen, erhebliche Vorteile.

9. Sicherung von Praktikumsplätzen in den Verwaltungen

Seit Jahren herrscht ein erheblicher Mangel an Praktikumsplätzen in der Verwaltung. Ein solches Praktikum ist jedoch verpflichtende Voraussetzung für die Zulassung zur Ersten Juristischen Prüfung (§ 4 Abs. 2 Nr. 2 JAVO). Teilweise können sich Studierende nicht zur Prüfung anmelden, da sie kein solches Verwaltungspraktikum erhielten.

Damit alle Studierenden ihr Pflichtpraktikum in der Verwaltung absolvieren können, müssen wir für ein breites Angebot und eine organisierte Vergabe sorgen.

10. Praktischen Studienzeit in der Vorlesungszeit

Die Pflichtprakta sind derzeit nur in der vorlesungsfreien Zeit, also 2 Mal im Jahr, möglich. Von den praktischen Studienzeiten sind in beliebiger Reihenfolge insgesamt drei Monate abzuleisten, und zwar

  1. ein Monat bei einem Amtsgericht,
  1. ein Monat bei einer Verwaltungsbehörde und
  1. ein Monat nach Wahl (auch bei einer sonstigen Ausbildungsstelle mit einer Betreuung durch einen Volljuristen).

Da diese Pflichtpraktika Voraussetzung für die Anmeldung zum Staatsexamen ist und die Wartezeit bis zu 2 Jahre beträgt, müssen wir die Absolivierung auch während der Vorlesungszeit erlauben. Teilweise können sich Studierende nicht zur Prüfung anmelden, da sie kein Praktikumsplatz erhielten.

Quellen:

1 Bündnis zur Reform der juristischen Ausbildung e.V., iur.reform Studie – Auswertung der größten Abstimmung unter Jurist:innen, Berlin 2023, abrufbar unter https://www.dropbox.com/s/o8a69awy3gp53ay/230521_iurreform-Studie-Langfassung%20%281%29.pdf?dl=0 (Abruf v. 10.08.2023).

2 Wüst, Stefan/Giglberger, Marina/Peter, Hannah, Abschlussbericht des Regensburger Forschungsprojektes zur Examensbelastung bei Jurastudierenden – JurSTRESS, Regensburg 2022, abrufbar unter https://www.uni-regensburg.de/assets/humanwissenschaften/psychologie-kudielka/JurSTRESS_Abschlussbericht.pdf (Abruf v. 10.08.2023).

3 Rabkow, Nadja, Die Psychische Gesundheit Studierender – Vergleiche zwischen Psychologie, Humanmedizin und Rechtswissenschaften an der Martin-Luther-Universität, Halle-Wittenberg 2022, abrufbar unter https://www.opendata.uni-halle.de/bitstream/1981185920/87967/1/Elektronische%20Version%20PDF%20Promotion.-pdf (Abruf v. 10.08.2023).

4 Bundesverband rechtswissenschaftlicher Fachschaften e.V./Drost, Luzie, Abschlussbericht zur zweiten Umfrage zum psychischen Druck, Hamburg 2022, abrufbar unter https://bundesfachschaft.de/wp-content/uploads/2022/02/Abschlussbericht_Umfrage_psychischer_Druck_final.pdf (Abruf v. 10.08.2023).

5 So auch der Deutsche Anwaltsverein in: Studie: Angst vor Studium befördert Nachwuchsmangel bei Juristen, beck-aktuell, 11. Mai 2023, abrufbar unter https://rsw.beck.de/aktuell/daily/meldung/detail/studie–angst-vor-studium-befoerdert-nachwuchsmangel-bei-juristen (Abruf v. 10.08.2023).

6 BRF/Stichnothe, Schmidt, Luceri u.a., Abschlussbericht Absolvent:innenbefragung 2020, S. 16, abrufbar unter https://bundesfachschaft.de/wp-content/uploads/2021/07/Abschlussbericht_Vierte-Absolventinnenbefragung-des-BRF-e.V._final_2.0.pdf (Abruf v. 10.08.2023).

Towfigh/Traxler/Glöckner, ZDRW 2018, 115 ff., abrufbar unter https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/2196-7261-2018-2-115/geschlechts-und-herkunftseffekte-bei-der-benotung-juristischer-staatspruefungen-jahrgang-5-2018-heft-2?page=1 (Abruf v. 10.08.2023).

8 Jahresbericht des Justizprüfungsamtes für die staatliche Pflichtfachprüfung bei dem Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgericht 2021, Schleswig 2022, abrufbar unter https://www.schleswig-holstein.de/DE/justiz/gerichte-und-justizbehoerden/OLG/Aufgaben/Justizpruefungsamt/StatistikenGesetze/JPAjahresberi-cht2021.pdf?__blob=publicationFile&v=2 (Abruf v. 10.08.2023).

9 Bundesverband rechtswissenschaftlicher Fachschaften e.V./Drost, Luzie, Abschlussbericht zur zweiten Umfrage zum psychischen Druck, Hamburg 2022, abrufbar unter https://bundesfachschaft.de/wp-content/uploads/2022/02/Abschlussbericht_Umfrage_psychischer_Druck_final.pdf (Abruf v. 10.08.2023).

Gremium:
Landesparteitag von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Schleswig-Holstein

Behandelt am
23. September 2023

Ergebnis:
Beschlossen bei
Nein: 1
Enthaltungen: 3